Betriebe sind keine meinungsfreien Zonen.
Darf ein Betriebsratsvorsitzender eine Wahlempfehlung aussprechen?
In wenigen Tagen findet die Bundestagswahl 2025 statt. Laut Umfragen ist rund ein Drittel der Wähler noch unentschlossen. Die Möglichkeit, die Wahlentscheidung zu beeinflussen, ist also noch relativ groß. Gerade am Arbeitsplatz, wo sich viele Menschen fast täglich begegnen, ist die Einflussnahme besonders groß. Doch wie viel Einfluss können Arbeitgeber, Betriebsräte und andere Beschäftigte auf die eigene Wahlentscheidung nehmen?
Ganz aktuell berichtete der Südkurier am 15.02.2025 auf der Titelseite, dass der Betriebsratsvorsitzende Thomas Bittelmeyer von Rolls-Royce Power Systems in Friedrichshafen im Intranet und auf Instagram ein Video veröffentlicht hat, in dem er die Mitarbeiter – immerhin 10.000 Beschäftigte – auffordert, ihr Kreuz „an der richtigen Stelle“ zu machen – und nicht bei einer Partei am rechten oder linken Rand. Welche Parteien konkret gemeint sind (AfD? Linke? BSW?), die nicht gewählt werden sollen, sagt Bittelmeyer nicht; er sieht auch keinen Verstoß gegen seine Neutralitätspflicht.
Darf der Betriebsratsvorsitzende eine solche Wahlempfehlung aussprechen?
Bei der Beantwortung dieser Frage hilft § 74 Abs. 2 Satz 3 BetrVG. Dort heißt es:
„[Arbeitgeber und Betriebsrat]
haben jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen;
die Behandlung von Angelegenheiten
tarifpolitischer, sozialpolitischer, umweltpolitischer und wirtschaftlicher Art,
die den Betrieb oder seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen,
wird hierdurch nicht berührt.“
- Welchem Zweck dient § 74 Abs. 2 Satz 3 BetrVG?
Durch das generelle Verbot für Arbeitgeber und Betriebsrat, sich im Betrieb parteipolitisch zu betätigen, soll die in einer derartigen Betätigung liegende abstrakte Gefährdung des Betriebsfriedens vermieden werden.
Das Verbot gilt daher folglich unabhängig davon, ob der Betriebsfrieden konkret gefährdet ist oder nicht.
- Wen betrifft das Verbot der parteipolitischen Betätigung?
Zu den Adressaten des § 74 Abs. 2 Satz 3 BetrVG zählen:
- der Arbeitgeber
- der Betriebsrat als Organ
- jedes einzelne Betriebsratsmitglied, wenn es in seiner Eigenschaft als Betriebsrats-mitglied auftritt – das ist der Fall, wenn zwischen der parteipolitischen Betätigung und der BR-Tätigkeit ein unmittelbarer Zusammenhang besteht (Bsp.: Leitung der BR-Versammlung, Wahrnehmung der Sprechstunde des BR)
- andere betriebsverfassungsrechtliche Funktionsträger und ihre Mitglieder
(Bsp.: Gesamtbetriebsrat (GesBR), Konzernbetriebsrat (KBR), Jugendauszubildenden-vertretung (JAV), Gesamt-JAV, Konzern-JAV)
Die Arbeitnehmer zählen hingegen nicht zu den Adressaten der Norm. Auch ein Betriebsratsmitglied, das in der konkreten Situation lediglich als Arbeitnehmer des Betriebes auftritt, ist nicht von dem Verbot des § 74 Abs. 3 Satz 2 BetrVG betroffen.
Auch die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften unterliegen dem Verbot nicht. Allerdings umfasst ihr Recht auf Betätigung im Betrieb nicht die Parteipolitik.
- Was genau ist nach § 74 Abs. 3 Satz 2 BetrVG verboten?
- 74 Abs. 2 Satz 3 BetrVG schränkt das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 5 GG ein. Die Norm ist dennoch verfassungskonform, sie muss allerdings so ausgelegt und angewendet werden, dass der Wertgehalt des Art. 5 GG gewahrt bleibt.
Arbeitgebern und Betriebsräten ist jede parteipolitische Betätigung verboten. Dabei erfordert eine Betätigung grundsätzlich ein eigenes aktives Handeln für oder gegen eine politische Partei.
Räumlich ist das Verbot auf den Betrieb beschränkt. Wobei sich das Verbot bei Betriebsratsmitgliedern auf den Betrieb beschränkt, für den er gewählt ist.
Unzulässig ist beispielsweise Folgendes:
- jede parteipolitische Werbung und Propaganda
- Veranlassung von Resolutionen
- Sammlung von Unterschriften
- Sammlung von Geldspenden
- alles, was Arbeitnehmer oder Arbeitgeber zu einer Stellungnahme zu parteipolitischen Fragen veranlassen soll, die mit dem betrieblichen Geschehen nichts zu tun haben
Zulässig ist beispielsweise Folgendes:
- ein an die Arbeitnehmer gerichteter Aufruf, sich an bevorstehenden politischen Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen
- eine allgemeine politische Betätigung, ohne Bezug zu einer / mehreren bestimmten Parteien
- die bloße Duldung parteipolitischer Betätigung von Arbeitnehmern des Betriebes (verboten ist hingegen eine aktive Unterstützung oder eindeutige Billigung)
- 74 Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 BetrVG: alle Angelegenheiten, die den Betrieb und seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen (siehe Frage 4)
- Was besagt § 74 Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 BetrVG?
Gemäß § 74 Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 BetrVG umfasst das Verbot der parteipolitischen Betätigung nicht „die Behandlung von Angelegenheiten tarifpolitischer, sozialpolitischer, umweltpolitischer und wirtschaftlicher Art, die den Betrieb oder seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen“.
Der Ausschluss von dem Verbot gilt über den Gesetzeswortlaut hinaus für alle Angelegenheiten, die den Betrieb und seine Arbeitnehmer unmittelbar betreffen. Derartige Angelegenheiten dürfen somit auch dann im Betrieb behandelt werden, wenn sie Gegenstand parteipolitischer Erörterungen oder Programme sind. Wobei eine einseitige Propaganda für oder gegen eine Partei weiterhin verboten bleibt.
Eine Angelegenheit betrifft den Betrieb oder seine Arbeitnehmer dann unmittelbar, wenn der Arbeitgeber in seiner Eigenschaft als Betriebsinhaber bzw. die Arbeitnehmer in ihrer Eigenschaft als Beschäftigte berührt sind. Erforderlich ist dabei nicht, dass die konkrete Angelegenheit ausschließlich den Betrieb oder seine Arbeitnehmer betrifft. § 74 Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 BetrVG ist auch dann einschlägig, wenn von der behandelten Angelegenheit ein ganzer Wirtschaftszweig oder sogar alle Arbeitnehmer in Deutschland betrifft.
- Gelten für Arbeitnehmer andere Verbote?
Für Arbeitnehmer gilt zwar nicht das Verbot nach § 74 Abs. 2 Satz 3 BetrVG, sie sind jedoch an ihre allgemeinen arbeitsvertraglichen Pflichten gebunden. Dazu zählt u.a. die Verpflichtung, den Betriebsfrieden und Arbeitsablauf nicht zu beeinträchtigen.
Anders als bei § 74 Abs. 2 Satz 3 BetrVG liegt eine Pflichtverletzung allerdings erst bei einer konkreten Gefährdung des Betriebsfriedens oder des ungestörten Arbeitsablaufs vor. Die Frage, ob tatsächlich eine Pflichtverletzung vorliegt, muss deshalb anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Relevant ist beispielsweise, ob der konkrete Arbeitnehmer Kundenkontakt hat, inwiefern er sich parteipolitisch betätigt, ob er aufdringlich ist etc.
Fazit: Der BR-Vorsitzender Herr Bittelmeyer von Rolls-Royce Power Systems darf zur Teilnahme an der Bundestagswahl aufrufen, aber er darf als BR-Vorsitzender nicht dazu aufrufen, keine linken oder rechten Parteien zu wählen. Was wird ihm juristisch passieren? Wahrscheinlich nichts.